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28.11.2011 12:35
Gegen die Finanzdiktatur
Frankfurt - "Als die Bankiers das Schuldennetz über die Länder und die Völker
warfen, wussten sie sehr genau, wer ihr nächstes Opfer sein würde: die
Demokratie. Wie Thukydides in der Grabrede von Perikles schrieb: “…und diese
Regierungsform heißt, weil sie nicht auf die Vorteile der wenigen, sondern der
vielen zielt, Demokratie…” Heute wird die Demokratie zunichte gemacht, weil die
Mehrheit von einer Minderheit zu deren Vorteil beherrscht wird – es herrscht die
Diktatur der Finanzmärkte. Es ist kein Zufall, dass Brüssel, Berlin, Paris und
Athen allein bei dem Gedanken, dass es in Griechenland zur Bekundung des
demokratischen Willens des Volkes kommen könnte, förmlich krank werden. Bertolt
Brechts Vorschlag, “Es wäre doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und
wählte ein anderes”, scheint wie für die Troika gemacht."
[Quelle: Auszug aus einer Rede von Nadia Valavani] JWD
Die griechische Publizistin und Ökonomin Nadia Valavani hat im Rahmen einer
Protestveranstaltung der Linken anlässlich des “European Finance Congress” am
18. Nov. in Frankfurt eine bemerkenswerte Rede gehalten. Ein Kerngedanke ihrer
Rede: „Hier und heute findet in Griechenland ein gigantisches gesellschaftliches
Experiment statt. Wir sind zu Versuchstieren gemacht worden, um beispiellose
Maßnahmen auszuprobieren und Schlussfolgerungen zu ziehen, bevor die gleichen
Maßnahmen den anderen europäischen Ländern auferlegt werden. In nur 18 Monaten
ist das 20. Jahrhundert im Bereich der Arbeitsrechte ganz abgeschafft worden.“
Schreibt Albrecht Müller als Einleitung zu seinem heutigen Artikel bei "nds.de".
Nadia Valavani:
"...Der Ausnahmefall Griechenland soll die Regel für alle europäischen Länder
werden. Das Finanzkapital ist dabei, einen neuen Typus der Kapitalakkumulation
zu entwickeln, der sogar am Boden des Fasses kratzt. Die vielschichtige
systemische Krise zeigt auf die eindrucksvollste Weise, dass die Ökonomien der
entwickelten kapitalistischen Länder nicht mehr überleben können, ohne dafür das
Einkommen, die Arbeitsbedingungen und den Lebensstandard ihrer Völker stark
einzuschränken..."
Die ganze Rede von Frau Valavani ist eine lesenswerte, in allen Punkten leider wohl
zutreffende Ist-Beschreibung der Zustände in der westlichen Welt.
Rede von Nadia Valavani auf der
Kundgebung
“Gegen die Diktatur der Finanzmärkte” der Linken
am 18. November 2011 in Frankfurt
Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Genossinnen und Genossen!
Eure Einladung, bei Euch auf der Kundgebung der Partei DIE LINKE hier in
Frankfurt zu sprechen, ist eine große Ehre für mich.
Wir danken Euch für Eure Solidarität, weil Ihr dem deutschen Volk mutig die
ganze Wahrheit sagt: dass das griechische Volk nicht kollektiv für die Krise
verantwortlich ist. Die Krise hat Griechenland nicht erfasst, weil die
Griechen – ebenso wenig wie die Arbeitnehmer von Island, Portugal, Irland
und der anderen europäischen Staaten – faul und korrupt sind. Korrupt sind
die Griechen, die von Siemens und internationalen Rüstungskonzernen
Schmiergelder angenommen haben, um überteuerte digitale Tele-Verbindungen
und nutzlose Waffensysteme zu kaufen. Korrupt sind auch diejenigen in
Deutschland, die Schmiergelder vergeben haben.
Wir danken der LINKEN dafür, dass sie die Deutschen darüber aufgeklärt hat,
was die Troika und die griechische Regierung dem griechischen Volk
verheimlichen wollen: Kein einziger Euro von den 65 Milliarden, die
Griechenland bis heute von der Troika als teures Darlehen bekommen hat, ist
für Löhne oder die Subvention von Renten ausgezahlt worden. Alles ist den
Banken zugeflossen, als Zinsen für Darlehen, deren Kapital schon bis zu 10
Mal bezahlt worden ist. Die Krise in Griechenland und in den anderen
sogenannten “infizierten” Ländern ist eine systemische Krise.
Liebe Freunde und Genossen!
Meine Heimat ist heute in der schwierigsten Lage seit der Zeit der
Nazi-Besetzung und des Bürgerkrieges. Ein unfähiges und korruptes
politisches System hat die Spekulation und das Schmarotzertum in jeder Weise
verstärkt, indem es die neoliberalen Anweisungen des europäischen und
internationalen Finanzkapitals wortwörtlich befolgt hat. Die früher
exportfähige griechische Landwirtschaft wurde verwüstet, die kleine
industrielle Basis des Landes zersetzt. Stattdessen wurden die griechischen
Reeder von jeder Steuerlast befreit; es wurde ein prinzipienloses
touristisches Entwicklungsmodell begünstigt, das total von den großen
deutschen und europäischen Reiseveranstaltern abhängig ist. Dieses
politische System hat die Arbeitnehmer schutzlos in den Mahlstrom der großen
strukturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen kapitalistischen
Krise geführt. Unter der verheerenden Leitung von Papandreou hat dieses
politische System den Angriff der Märkte gegen Griechenland, dem schwächsten
Glied in der Euroz?ne, erleichtert und dabei geholfen, einen
Spekulantensturm ausbrechen zu lassen.
Deshalb wurde der Internationale Währungsfond nach Griechenland und Europa
gerufen: um zu garantieren, dass die Banken ihre Zinsen weiterhin einnehmen
können – unbeschadet der Trümmer, die sie hinterlassen.
Im Frühling letzten Jahres wurde klar, dass Griechenland zwar die
Grundbedürfnisse seiner Bevölkerung weiterhin befriedigen, aber nicht
gleichzeitig seine Zinsen zahlen kann. Was hat die griechische Regierung
draufhin getan? Sie hat bei der Troika ?uflucht gesucht und das extrem
neoliberale Memorandum mit der Europäischen Kommission, der Europäischen ?entralbank
und dem Internationalen Währungsfond akzeptiert, statt die Auszahlung der
Darlehen auszusetzen, um in einer Wiederverhandlung eine drastische
Streichung der mehrfach bezahlten griechischen Staatsschulden zu erreichen
und wirtschaftliche Entwicklungsmaßnahmen zugunsten der Arbeitnehmer
einzuleiten. Trotz des vollen Misserfolgs des Memorandums, besser gesagt des
Abkommens, wurde Griechenland im letzten Juli von der Troika das
„Mittelfristige Programm“ – bis 2015 – auferlegt. Dieses Programm führt zur
totalen Plünderung des staatlichen Reichtums durch ein riesiges
Privatisierungsprogramm, mit dem eigentlich alles bis auf die nationalen
Wälder und die Akropolis in den Ausverkauf kommt – und das als Voraussetzung
für einen “Haircut” der griechischen Schuldscheine, der ganz fiktiv als ein
Schuldenschnitt von 50% dargestellt wird.
Mit dem Memorandum und dem mittelfristigen Programm hat das Land seine
nationale Unabhängigkeit verloren. Die Demokratie wurde zunichte gemacht,
die Verfassung des Landes wird jeden Tag verletzt. Die Wirtschaft wird
planvoll zerstört. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich im letzten Jahr um 14%
verringert. Das griechische Volk wird systematisch in die Verelendung
getrieben. In den letzten zwei Jahren hat sich die Arbeitslosigkeit mehr als
verdoppelt. Bis Ende des Jahres werden wir mehr als eine Million offiziell
gemeldete Arbeitslose haben – das ist eine Arbeitslosenquote von 21 %. Das
größte Verbrechen aber wird gegen die Jugend begangen: 43 % der griechischen
Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren sind arbeitslos. Es geht nicht mehr
nur um eine “verlorene” Generation – es geht um einen echten
gesellschaftlichen Völkermord.
Hier und heute findet in Griechenland ein gigantisches gesellschaftliches
Experiment statt. Wir sind zu Versuchstieren gemacht worden, um beispiellose
Maßnahmen auszuprobieren und Schlussfolgerungen zu ziehen, bevor die
gleichen Maßnahmen den anderen europäischen Ländern auferlegt werden. In nur
18 Monaten ist das 20. Jahrhundert im Bereich der Arbeitsrechte ganz
abgeschafft worden. Am 27.November werden, gegen die Verfassung, die ersten
30000 Entlassungen im öffentlichen Dienst stattfinden. Die Gehälter im
öffentlichen Dienst wurden um 40% und im privaten Bereich um mehr als 10%
verringert. Das neue, noch nie dagewesene Verbot, gewerkschaftliche
Tarifverträge abzuschließen, das bis 2015 gelten soll, führt unter
Verletzung der Verfassung und der internationalen Arbeitsverträge zur
Einschränkung der Gewerkschaftsbewegung und zur Aufkündigung der bestehenden
Gewerkschaftsverträge. Die Troika kommt ihrem Ziel, den griechischen
Mindestlohn zu ‘‘balkanisieren“, immer näher. Die Löhne würden dann für eine
Vollzeitarbeit auf 350 bis 450 Euro pro Monat fallen, während die Preise in
Griechenland so hoch wie in Deutschland sind. Die 400.000 Geschäfte, die
schließen mussten, zeigen, wie rasch die mittleren Schichten schwinden.
Immer denselben Menschen, den Arbeitnehmern und Rentnern, werden immer neue
Steuern aufgebürdet. Die Selbstmorde haben sich in letztem Jahr mehr als
verdoppelt. Das öffentliche Schulsystem und das nationale Gesundheitssystem
lösen sich auf. Hunger ist inzwischen ein ernstzunehmendes Problem in
Griechenland.
Liebe Genossen und Freunde!
Seit dem Frühjahr 2010 demonstrieren fast jeden Tag Tausende von Menschen in
ganz Griechenland, um ihren politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Vom 25. Mai bis Anfang Juli wurde der Syntagma-Platz vor dem griechischen
Parlament in Athen von Bürgern besetzt. Dort endete auch der zweitägige
Generalstreik vom 19. und 20. Oktober dieses Jahres, der vierte zweitägige
Generalstreik in der Geschichte Griechenlands seit 1918. Gleichzeitig
demonstrierten eine halbe Million Menschen auf den Straßen der griechischen
Städte.
Der 28. Oktober ist der griechische Nationalfeiertag. An diesem Tag feiert
das griechische Volk seinen Widerstand gegen die faschistische Regierung
Mussolinis, der es am 28. Oktober 1940 den verlangten freien Durchmarsch der
italienischen Armee durch das Land verweigerte. Aus Wut und Verzweiflung
machten die Griechen dieses historische Nein in diesem Jahr zu einem Nein
gegen die Politik der Troika: Überall im ganzen Land wurden die Ehrengäste
von den Tribünen in den Städten, auch den kleinsten, vertrieben, und statt
der Armee demonstrierten Schüler vor den Veteranen des antifaschistischen
Widerstands. In Thessaloniki fand deshalb die Armeeparade nicht statt, und
der Präsident der Republik zog sich von den Feierlichkeiten zurück.
Es war unter dem Eindruck dieser Ereignisse, dass Papandreou die
Volksabstimmung vorschlug, um so einen letzten Versuch zu machen, das
griechische Volk zu erpressen. Die Reaktionen von Merkel, Sarkosy und Olli
Rehn auf diesen Vorschlag machten restlos klar, dass die europäische Elite
nichts mehr fürchtet als die Artikulation des Volkswillens – egal, in
welcher Form. SYRIZA, die KPG und die anderen Kräfte der griechischen Linken
verlangen, dass das griechische Volk durch die Wahlen seinen Willen zum
Ausdruck bringen kann. Trotz verschiedener Standpunkte über die Eurozone ist
das gemeinsame Motto der Linken “Die Krise soll von denen bezahlt werden,
die sie hervorgerufen haben, die Banken und das Kapital!” und “Keine Opfer
für den Euro!”
Der Chef der neuen griechischen Regierung – mit Ministern aus allen
Parteien, die das Memorandum unterstützen: PASOK, Nea Dimokratia und die
rechtsextreme, fremdenfeindliche und antisemitische Partei LAOS – ist ein
internationaler Bankier aus den ersten Reihen der Finanzkapitalistischen
Internationale, bis vor kurzem Einwohner des Bankenviertels hier in
Frankfurt. Die Mission dieser Regierung ist es, die Beschlüsse der
Gipfelkonferenz der Europäischen Union vom 26. Oktober umzusetzen. Mit der
Durchführung dieser Beschlüsse wird das griechische Volk spätestens bis 2021
in die absolute Verelendung geführt; das öffentliche Vermögen des Landes
wird von den Banken und den internationalen Konzernen geplündert. Unser Volk
verliert alles wegen nichts – denn auf dem geplanten Weg werden die
griechischen Schulden im Jahre 2020 auf dem Stand von 2009 sein – also so
hoch wie zu Beginn dieses Abenteuers.
Das wirkliche Ziel ist aber ein anderes: Der Ausnahmefall Griechenland soll
die Regel für alle europäischen Länder werden. Das Finanzkapital ist dabei,
einen neuen Typus der Kapitalakkumulation zu entwickeln, der sogar am Boden
des Fasses kratzt. Die vielschichtige systemische Krise zeigt auf die
eindrucksvollste Weise, dass die Ökonomien der entwickelten kapitalistischen
Länder nicht mehr überleben können, ohne dafür das Einkommen, die
Arbeitsbedingungen und den Lebensstandard ihrer Völker stark einzuschränken.
Als die Bankiers das Schuldennetz über die Länder und die Völker warfen,
wussten sie sehr genau, wer ihr nächstes Opfer sein würde: die Demokratie.
Wie Thukydides in der Grabrede von Perikles schrieb: “…und diese
Regierungsform heißt, weil sie nicht auf die Vorteile der wenigen, sondern
der vielen zielt, Demokratie…” Heute wird die Demokratie zunichte gemacht,
weil die Mehrheit von einer Minderheit zu deren Vorteil beherrscht wird – es
herrscht die Diktatur der Finanzmärkte. Es ist kein Zufall, dass Brüssel,
Berlin, Paris und Athen allein bei dem Gedanken, dass es in Griechenland zur
Bekundung des demokratischen Willens des Volkes kommen könnte, förmlich
krank werden. Bertolt Brechts Vorschlag, “Es wäre doch einfacher, die
Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes”, scheint wie für die
Troika gemacht.
Liebe Genossen und Freunde!
In Griechenland kämpfen wir für das Überleben und die Menschenwürde unseres
Volkes. Wir kämpfen für die Entmachtung der neuen Regierung, um die Ketten
der alten und neuen Memoranden zu brechen. Wir kämpfen für die
Wiederherstellung einer umfassenden, größtmöglichen demokratischen
Rechtmäßigkeit. Wir wollen keine Raten und keine Darlehen, wir brauchen
keine Retter, wir wollen nicht von anderen mit Gewalt gerettet werden. Wir
wollen nicht, dass die Vertreter der Banken uns vor den Bankern retten. Wir
wollen uns selbst retten, gestützt nur auf unsere Kämpfe und ebenso auf die
Kämpfe und die Solidarität der Arbeitnehmer und der europäischen Völker.
Gestützt auf eure Kämpfen, auf eure Solidarität.
Unter den Bürgern und den linken Kräften in unserem Land gewinnt die Idee
von einer großen, breiten Front von politischen und gesellschaftlichen
Kräften, die die jetzige Situation grundlegend verändern könnte, mehr und
mehr und mehr an Boden. Wir lehnen das Abkommen vom 26. Oktober ab. Wir
kämpfen für eine Pause in der Darlehenrückzahlung und das drastische
Abschreiben der griechischen Staatschulden. Wir müssen die Banken und die
Unternehmen mit strategischer Bedeutung vergesellschaften bzw.
verstaatlichen, um die Voraussetzungen für eine völlig neue Entwicklung der
griechischen Wirtschaft zu schaffen: eine umwelt- und menschenfreundliche,
den Charakteristika und Möglichkeiten Griechenlands angemessene Entwicklung.
Für diese Entwicklung braucht Griechenland dringend die internationale
Unterstützung Europas und der ganzen Welt.
Liebe Freundinnen und Freunde!
Schaut uns heute genau an: Das ist die Zukunft, die sie für alle bereit
halten. Die Glocken läuten nicht nur für die Griechen. Sie läuten für alle.
Lasst uns zusammen für eine grundsätzlich andere, friedliche und befreiende
Zukunft für die arbeitenden Menschen, für alle Völker Europas und der ganzen
Welt kämpfen.
Link zum Originaltext bei ' nachdenkseiten.de '
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Tags: Denkfehler, Wirtschaftsdebatte, Erosion
der Demokratie, Euro und Eurokrise, Austeritätspolitik, Finanzmärkte,
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