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27.09.2012 19:05
Neoparasitismus: Mitt Romney und der Mythos vom selbst erarbeiteten Reichtum
Man könnte es Romnesie nennen: Jene Fähigkeit von Superreichen, den Kontext zu vergessen, in dem sie ihr Geld gemacht haben. Ihre Ausbildung zu vergessen, ihre Herkunft, ihre Familiennetzwerke, ihre Kontakte und wer sie wem alles so vorgestellt hat. Die Arbeiter zu vergessen, deren Arbeit sie reich gemacht hat. Die Infrastruktur zu vergessen, die Sicherheit, die Ausbildung ihrer Arbeiter und nicht zuletzt die Aufträge, Subventionen und Rettungsprogramme die sie von Regierungen erhalten haben. [Quellen: Fliegende Bretter | The Guardian]  JWD


[Auszüge]: Jedes politische System braucht einen Mythos zu seiner Legitimation. Die Sowjetunion hatte Alexej Stachanow, jenen Bergmann, der während einer einzigen, sechs Stunden langen Schicht 100 Tonnen Kohle allein gefördert haben soll. In den USA ist es Richard Hunter, der Held aus Horatio Algers Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichten.

Beide Geschichten enthalten ein Körnchen Wahrheit: Stachanow arbeitete hart für etwas, an das er glaubte. Allerdings war seine bemerkenswerte Leistung wohl ein Märchen. Zu der Zeit, in der Alger seine Romane schrieb, waren in den USA gerade ein paar arme Leute sehr reich geworden. Je weiter aber ein System sich von seinen Idealen (Produktivität im Fall der Sowjetunion, Chancen nutzen im Falle der USA) entfernt, desto heftiger werden diese Legitimierungsmythen propagiert.

Je weiter in westlichen Industrieländern extreme Ungleichheit und soziale Immobilität zunehmen, desto mächtiger erstrahlt der Mythos des Self Made Man. Er dient dazu, das genaue Gegenteil zu rechtfertigen: Eine unantastbare Klasse Kapitalrentner zu schützen, die ihr meist ererbtes Geld dazu einsetzt, um an den Reichtum anderer Leute zu gelangen.

Das wohl krudeste Beispiel für Romnesie ist die australische Bergbaumagnatin Gina Rinehart. "Darauf, Millionär zu werden, gibt es kein Monopol, ", meint sie. "Wenn Sie neidisch sind auf die, die mehr Geld haben als Sie, dann sitzen Sie nicht rum und jammern Sie. Tun Sie etwas, um Ihrerseits mehr Geld zu machen – verbringen Sie weniger Zeit mit rauchen, trinken und ausgehen und stattdessen mehr mit arbeiten… Besinnen Sie sich unserer Wurzeln und arbeiten Sie an Ihrem eigenen Erfolg."

Aber genau das, sich der eigenen Wurzeln zu besinnen, ist es, was Rinehart eben nicht tut. Sie vergisst zu erwähnen, dass es hilfreich ist, in Zeiten eines Rohstoffbooms vom Vater eine Eisenerzgrube und ein Vermögen zu erben, wenn man Millionärin – in ihrem Fall sogar Milliardärin – werden will. Hätte sie ihr ganzes Leben ausschließlich damit verbracht, im Bett zu liegen und die Wände mit Darts zu bewerfen, sie wäre immer noch schwerreich. [..]

Die Listen der Superreichen sind voller Leute, die ihr Geld entweder geerbt oder aus Kapitalrenditen generiert haben, also eben nicht mittels Innovationen und Verkaufserlösen. [..]

Kaum ein Republikaner in den USA versäumt es, bei jeder Gelegenheit das Richard-Hunter-Narrativ aufzuwärmen, und fast alle dieser Tellerwäscher-Geschichten erweisen sich letztlich als Blödsinn. "Alles, was Ann und ich besitzen", behauptet Mitt Romney, "haben wir auf die altmodische Art verdient." Altmodisch im Sinne Captain Blackbeards vielleicht. Zwei aufschlussreiche Artikel im Rolling Stone Magazine dokumentieren nicht nur seine gehebelten Buyouts, die gesunde Unternehmen, reale Werte und Jobs vernichtet haben, sondern auch die kostspielige staatliche Rettung, die seine Haut gerettet hat.

Romney verkörpert ökonomisches Parasitentum. Der Finanzsektor ist zu einer Maschinerie geworden, die Jobs zerstört, Menschen obdachlos macht, Existenzen vernichtet und andere in Armut stürzt, um sich zu bereichern. Je mehr diese Maschinerie die Politik im Griff hat, desto lauter müssen deren Repräsentanten die gegenteilige Geschichte erzählen: Die von segensreichem Unternehmertum und Investment, von mutigen Machern, die durch nichts als Cleverness und Ausdauer zu ihren Reichtümern gekommen sind. [..]

Im Jahr 2010 sackte das reichste Prozent in den USA erstaunliche 93 Prozent der Einkommenssteigerungen ein. Im gleichen Jahr verdienten Spitzenmanager im Durchschnitt 243 mal so viel wie der durchschnittliche Arbeiter (1965 war die Schere zehnmal kleiner). Zwischen 1970 und 2010 stieg der Gini-Koeffizient, mit dem sich [Einkommens-] Ungleichheit messen lässt, in den USA von 0,35 auf 0,44. Ein Riesensprung. [..]

Chancengleichheit, Eigeninitiative und heroischer Individualismus: Das sind die Mythen, die der Raubtierkapitalismus für sein politisches Überleben braucht. Romnesie ermöglicht es den Superreichen, die Rolle zu ignorieren, die andere Menschen beim Anhäufen ihres Reichtums gespielt haben und denen, die nicht so viel Glück hatten wie sie, jede Hilfe zu verweigern. [..] Heutzutage behaupten die Parasiten, sie seien Unternehmer. [Ende Auszüge]


Link zum vollständigen Artikel bei ' fliegende-bretter.blogspot.de '  ..hier  |  Originalartikel ' guardian.co.uk '  ..hier


Erschienen im Guardian am 24.09.2012. Eine Version mit allen Belegen findet sich auf der Webseite des Autors [..hier]. Der Titel wurde verändert, sonstige Änderungen durch eckige Klammern kenntlich gemacht. Unautorisierte Übersetzung aus dem Englischen (nicht für gewerbliche Zwecke): S. Rose [Quelle: Fliegende Blätter]


Anmerkung: Auch die nicht zitierten Passagen der Original-Übersetzung sind sehr lesenswert. [..hier]

 
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