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16.03.2019 12:00 |
#Kultursplitter
Sind Pflanzen intelligente Wesen?
Nach der Tierethik soll die Pflanzenwürde kommen. — Wir alle haben
von der künstlichen Intelligenz gehört. Wie steht es mit der biologischen
Intelligenz? Die Wissenschaftsdisziplin Pflanzenphysiologie wird seit Jahren von
Behauptungen attackiert, die Intelligenz würde als Kontinuum bestehen,
angefangen von Bakterien über Radieschen, Schnecken, Affen und letztlich den
Menschen. Einige Experten behaupten, Intelligenz sei eine Eigenschaft aller
Lebensformen. Um eine Experten-Bewertung zu diesem kontroversen Thema zu
bekommen, hat MercatorNet Professor Ulrich Kutschera befragt. [Quelle:
de.richarddawkins.net] JWD
Quelle: de.richarddawkins.net (verlinkt) | Bild:
Blaue Schwertlilien, Alfred Kutschera, 1990
Interview:
MercatorNet: Einige Biologen behaupten, Pflanzen hätten kognitive
Eigenschaften, einschließlich Sinneswahrnehmungen, Lernverhalten, Gedächtnis und
Bewusstsein. Ist das eine Minderheiten-Ansicht?
U. Kutschera: Als einer der Assoziierten Editoren des US-Fachjournals
Plant Signaling & Behavior bin ich im stetigen Kontakt mit Fachkollegen, die
behaupten, Pflanzen wären intelligente Wesen, ähnlich den „niederen Tieren“, wie
z. B. Egel und Regenwürmer. Da ich diese Geschöpfe im Verlauf der letzten 40
Jahre untersucht habe, fühle ich mich kompetent, diesen Gegenstand von einem
„zoo- wie phytozentrischen“ Blickwinkel bewerten zu können. Nach meiner
Einschätzung akzeptiert die Mehrheit der Pflanzenwissenschaftler das Konzept
einer „Grünen Intelligenz“ keineswegs, ebenso wenig wie die Behauptung, die
Pflanzen hätten eine Art „Würde“. Es handelt sich jedoch um interessante
philosophische Aspekte mit Bezug zum pflanzlichen Leben, die man diskutieren
sollte, aber immer nur aus dem Blickwinkel einer naturwissenschaftlichen
Weltsicht.
MercatorNet: Vertreter der Biologischen Intelligenz behaupten, dass diese
Eigenschaft, definiert als die Befähigung der Organismen, sich an wechselnde
Umweltbedingungen anzupassen, auf Pflanzen zutrifft. Was sagen Sie dazu?
U. Kutschera: Das Problem ist, dass es zahlreiche Definitionen des
Intelligenzbegriffs gibt, sodass nicht einmal Psychologen dieses Wort
einheitlich umschreiben können. Pflanzenphysiologen, die die
Schlüsseleigenschaft von Schimpansen und Menschen auf die „Grüne Welt“
übertragen, argumentieren üblicher Weise, dass Intelligenz mit der Befähigung,
Probleme zu lösen, gleichgesetzt werden kann. Akzeptieren wir diese Definition,
so muss man Egeln und Regenwürmern (die ein Miniatur-Gehirn besitzen)
Intelligenz zubilligen, und, gemäß dieser Logik, wäre dann die „hirnlose
Vegetation“ ebenso intelligent.
MercatorNet: Es ist offensichtlich, dass Pflanzen kein Gehirn, wie wir es
besitzen, entwickelt haben – eine große Ansammlung von Neuronen, die durch den
Schädel geschützt sind. Wäre es aber nicht möglich, Intelligenz als ein weit
verbreitetes Netzwerk zu definieren, wie z. B. die künstliche Intelligenz?
U. Kutschera: Diese Definition existiert in Veröffentlichungen mancher
Befürworter der Pflanzenintelligenz, wie in meinem Lehrbuch beschrieben (1).
Wenn wir das ausgedehnte unterirdische Wurzelsystem typischer Landpflanzen
untersuchen, wird argumentiert, können wir uns durchaus vorstellen, dass all die
vielen Millionen Wurzelspitzen eine Art weit verbreitetes, sensitives Netzwerk
bilden, analog der künstlichen Intelligenz. Diese Betrachtung eines
unterirdischen Organsystems, welches die Erde „durchsucht“ um Wasser und
Mineralsalze ausfindig zu machen, ist durchaus sinnvoll.
MercatorNet: Sollten wir die Pflanzenintelligenz akzeptieren, was würde
das für den Menschen bedeuten? Wäre das die letztendliche Entthronung des Homo
sapiens, wie sie von Charles Darwin eingeleitet worden ist?
U. Kutschera: Ich habe im entsprechenden Kapitel meines Lehrbuchs
argumentiert, dass die Befähigung, Probleme zu lösen (d. h. eine der vielen
Definitionen von Intelligenz), eindeutig eine Eigenschaft aller Lebewesen
darstellt: Bakterien, Schleimpilze, Regenwürmer, Algen, Pflanzen, Affen und
Menschen sind in der Lage, zu überleben und sich fortzupflanzen. Ein kreativer
Mensch (Naturwissenschaftler, Künstler usw.) hat jedoch möglicherweise die
Befähigung, seine praktischen Probleme des Lebens zu lösen nicht perfekt im
Griff, während ihm ein relativ unkreativer Routinearbeiter (z. B.
Schalter-Beamter, Verkäufer usw.) in dieser Beziehung weit überlegen ist. Sobald
wir Intelligenz zumindest teilweise mit Kreativität gleichsetzen, ergeben sich
Probleme mit der Definition, wie sie von den Anhängern der Pflanzenintelligenz
verwendet wird – diese Begriffsbestimmung verliert dann ihre Bedeutung. Obwohl
Charles Darwin in seinem 1880 erschienen Buch über die Bewegungsvorgänge der
Pflanzen als Erster die Wurzelspitze von Keimpflanzen mit dem Gehirn eines
niederen Tiers verglichen hat, womit er die Pflanzenintelligenz-Bewegung
einleitete, bleibt der Mensch dennoch diesbezüglich einmalig. Manche Menschen
komponieren Musik, zeichnen abstrakte Bilder, schreiben Romane oder
wissenschaftliche Lehrbücher. Keine Affenart konnte bisher entdeckt werden, die
mit einer derartigen Kreativität ausgestattet war.
Radikale Pflanzenethik-Aktivisten: „Salat ist
Mord“.
MercatorNet: Wie steht es mit der Ethik bezüglich des Pflanzenlebens?
U. Kutschera: Das ist ein ernsthaftes Problem, welches mit der
Pflanzenintelligenz in Verbindung steht. Im April 2009 diskutierte das Schweizer
Parlament das Problem der Pflanzenethik und schlug vor, der Vegetation eine Art
„Würde“ zuzubilligen. Als Konsequenz dieser Zuschreibung verteilten bald
radikale Pflanzenethik-Aktivisten T-Shirts und andere Propagandamaterialien mit
der Aufschrift „Salat ist Mord“. Obwohl Pflanzen sensitive, wertvolle Lebewesen
sind, ist diese Agenda fragwürdig. Ich würde so weit gehen, sie in ihrer
extremen Form als Teil einer wachsenden europäischen Bewegung der
Pseudowissenschaft-Esoterik zu bezeichnen.
MercatorNet: Müssen wir denn nicht auf Grundlage dieser Erkenntnisse die
Thesen des Philosophen Peter Singer aktualisieren, um die Rechte der Pflanzen zu
verteidigen?
U. Kutschera: Trotz meiner Vorbehalte, Pflanzen als intelligente Wesen
mit Würde zu interpretieren, stimme ich mit Singer überein: Pflanzen sollten, in
Bezug auf den Menschen, als wertvolle und gleichwertige Organismen respektiert
werden. Sie repräsentieren derzeitige Endpunkte der organismischen Evolution,
die vor etwa 3.800 Millionen Jahren begonnen hat. Pflanzen sollten geschützt und
nicht zerstört werden, weil sie unsere „evolvierten Cousinen“ sind, und, darüber
hinaus, Photosynthese betreiben. Ohne grüne Pflanzen gäbe es kein Leben auf der
Erde. Pflanzen liefern unsere Nahrung (alles Fleisch war einmal Gras), erzeugen
den Sauerstoff den wir einatmen, liefern Holz um Häuser zu bauen, Fasern für
Bekleidung und bilden darüber hinaus eine grüne Umwelt, die uns psychologisch
gesund erhält.
MercatorNet: Wie können Sie die hohe Sensitivität sowie das
bemerkenswerte Verhalten von Pflanzen erklären, so z. B. die Schattenvermeidung,
Kommunikation mit Artgenossen usw.?
U. Kutschera: Wie oben bereits erwähnt, sind Pflanzen sehr komplexe
Lebewesen, die nach den Prinzipien der Physik und Chemie funktionieren. Sie
tragen ein vererbbares genetisches Programm (das Genom) und haben Anpassungen
herausgebildet, um zu überleben und in einer feindlichen Welt Nachkommen zu
hinterlassen. Anders gesagt, als festgewachsene Organismen müssen sich Pflanzen
ständig mit Herausforderungen ihrer Umwelt auseinandersetzen. Sie können nicht
davonlaufen, um Räubern zu entkommen; daher verteidigen sie sich über „chemische
Waffen“ (d. h. sekundäre Biomoleküle, die in speziellen Zellkompartimenten
abgelagert sind). Um ihre autotrophe Ernährung sowie das Wachstum
sicherzustellen, absorbieren die Pflanzen über die Wurzel Mineralsalze (in
Wasser gelöst), transportieren diese Nährstoffe innerhalb ihres Körpers,
betreiben Photosynthese und antworten auf Umweltänderungen.
Die Schattenvermeidung, Kommunikation mit Artgenossen (z. B. über Pilzwurzeln)
erkläre ich wie folgt. Nur jene Individuen in variablen Pflanzen-Populationen,
die zufällig (über Genom-Umgruppierungen und erbliche Mutationen) an die
herrschenden Umweltbedingungen angepasst waren, überlebten und pflanzten sich
fort. Die meisten Konkurrenten wurden durch Räuber usw. zerstört. Als Resultat
dieses evolutionären „Daseinswettbewerbs“ sehen wir das, was heute in der
Biosphäre übrig geblieben ist: Die am besten adaptierten Individuen. Diese
repräsentieren jene Mitglieder variabler Populationen, die wir heute als
Pflanzenbedeckung in natürlichen Ökosystemen beobachten können.
Hohe Sensitivität und
komplexe Stoffwechselaktivitäten
MercatorNet: In Ihrem Buch beschreiben Sie die Forschungsarbeiten des
Begründers der Pflanzenphysiologie, Julius Sachs (1832–1897), und erklären die
Bedeutung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Die Naturwissenschaften schreiten
jedoch rasch voran. Warum ist es dennoch angemessen, die Leistungen von Sachs
heute zu diskutieren?
U. Kutschera: Alle Menschen sind selbstverständlich vor dem Gesetz
gleich, aber sie haben keine evolutionäre Entwicklung als genetisch identische
Klone durchlaufen. Anders ausgedrückt, alle Männer und Frauen in einer
Population unserer Art sind verschieden, bezüglich ihres Aussehens (Phenotyp),
genetisch (Genotyp), und in Bezug auf ihre von den Eltern vererbten Fähigkeiten.
Ähnlich wie Darwin war auch Julius Sachs ein außergewöhnlicher
Naturwissenschaftler, der aufgrund angeborener Genialität, als „Workaholic“,
sein ganzes Leben der Wissenschaft widmete. Wie ich in meinem Buch gezeigt habe
(1), sind die meisten Forschungsergebnisse und Theorien, die er vor 150 Jahren
formuliert hatte, noch heute gültig, obwohl die Biowissenschaften durch einen
unvorstellbar raschen Fortschritt gekennzeichnet sind (jährlich werden Tausende
hochwertiger Research Papers veröffentlicht). Darwin und Julius Sachs sind
Ikonen der Biologie.
MercatorNet: Sie sind besorgt darüber, dass die Zuschreibung von
Intelligenz an Pflanzen jene Menschen unterstützen wird, die den
okkult-esoterischen Pseudowissenschaften verfallen sind. Warum?
U. Kutschera: In meinem Lehrbuch habe ich im Sinne von Sachs
argumentiert: Pflanzen sind evolvierte Lebewesen ohne Nervensystem und Hirn,
aber sie sind durch hohe Sensitivität und komplexe Stoffwechselaktivitäten
gekennzeichnet. Wir sollten ihnen dennoch nicht die Fähigkeit einer Intelligenz
zuschreiben – in analoger Weise sind Egel keine „intelligenten Würmer“. Ich sehe
die Gefahr eines weiteren Ansteigens okkult-esoterischer Ideologien, die,
zumindest teilweise, die deutsche Politik dominieren, wie auch unser orthodoxes
Erziehungssystem. Dogmatisch denkende Anti-Naturwissenschaftler könnten dieses
Konzept der Pflanzenintelligenz aufgreifen und dieses mit religiösem Glauben und
Aberglauben vermischen. Wenn wir Schlüsselbegriffe, die das menschliche
Denkvermögen beschreiben umdefinieren, wird die Biologie Schaden erleiden.
Unkritische Ideen, gemeinsam mit dem Auftreten pseudowissenschaftliche
Behauptungen, werden in die Lebenswissenschaften eindringen, ähnlich wie die
Behauptungen der Kreationisten, den Anhängern der Homöopathie usw.
MercatorNet: In Ihrem umfangreichen Lehrbuch diskutieren Sie auch
genetisch modifizierte Organismen (GMOs) und den Klimawandel. Warum?
U. Kutschera: Pflanzen sind die grünen Schlüsselorganismen unserer
Biosphäre. Sie liefern nicht nur Nahrung und Sauerstoff, sondern bestimmen auch
in hohem Maße unser Klima. Genetisch modifizierte Pflanzen sind produktiver und
in der Agrikultur einfacher zu handhaben als ihre Verwandten. Wie im Buch
ausführlich dargestellt, sind sie weder für die Umwelt, noch für die Verbraucher
in irgendeiner Form schädlich. Hier in Deutschland lehnt eine Mehrheit der
Bevölkerung GMOs ab. Das ist im Wesentlichen das Resultat einer politischen
Anti-Gentechnik-Propaganda. Leider nimmt auch der naturwissenschaftliche
Analphabetismus zu.
Um diese besorgniserregenden Entwicklungen einzudämmen, möge man mein Lehrbuch
(1), sowie ein neues Journal mit dem Titel Plants, People, Planet (4) als
„geistige Waffe der Rationalität“ bzw. als „neue Agenda der
naturwissenschaftlichen Aufklärung“ interpretieren. Leider wirkt diese naive
„German Angst“ bezüglich genetisch verbesserter Pflanzen auch in der
Klimawandel-Debatte. Wie in meinem Buch auf vielen Seiten beschrieben, entfernen
grüne Pflanzen derzeit etwa 1/3 der anthropogenen Kohlendioxid-Emissionen. Man
kann das Problem der Erderwärmung nur im Lichte dieser und anderer biologischer
Fakten diskutieren und verstehen – all diese Sachverhalte basieren auf einer
detaillierten Kenntnis der Lebensvorgänge der Pflanzen (1, 4).
Das Interview ist zuerst auf
Mercatornet veröffentlicht worden.
Dr. Ulrich Kutschera ist Professor für Evolutionsbiologie und
Pflanzenphysiologie an der Universität Kassel (Deutschland) und Visiting
Scientist in Stanford/Palo Alto (Kalifornien, USA). Er ist nicht nur ein Experte
auf dem Gebiet der Evolution und Verhaltensbiologie der Tiere, sondern auch ein
experimentell arbeitender Pflanzenphysiologe mit Schwerpunkt auf Nutzpflanzen,
wie Sonnenblume, Mais und Reis. Als Autor von etwa 300 wissenschaftlichen
Publikationen, sowie 13 Fachbüchern über eine Vielzahl an Sachgebieten, verfügt
er über eine umfassende Kenntnis innerhalb der biomedizinischen Wissenschaften.
Das Lehrbuch Physiologie der Pflanzen.
Sensible Gewächse in Aktion, das mehrere hundert Grafiken enthält und sich
auch auf die eigene experimentelle pflanzenphysiologische Arbeit des Autors
bezieht, erschien im Januar 2019. Ein umfangreiches Kapitel widmet sich der
Pflanzenintelligenz.
Quelle: de.richarddawkins.net (verlinkt)
Literatur (1.) Kutschera, U. (2019) Physiologie der Pflanzen. Sensible Gewächse in Aktion.
LIT-Verlag, Berlin. (http://www.lit-verlag.de/isbn/3-643-14226-9)
(2.) Mancuso, S. (2018) The Revolutionary Genius of Plants. A New Understanding
of Plant Intelligence and Behavior. Simon & Schuster, New York.
(3.) Koechlin, F. (2017) Plant Whispers. A Journey through new realms of
Science. Lenos Verlag, Basel.
(4.) Hiscock, S. J., Wilkin, P., Lennon, S., Young, B. (2019) Plants matter:
Introducing Plants, People, Planet. Plants, People, Planet, 1, 2–4.
Link zum Originaltext bei ' de.richarddawkins.net ' ..hier
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Tags:
künstlichen Intelligenz, biologischen Intelligenz,
Wissenschaftsdisziplin, Pflanzenphysiologie, Intelligenz, Kontinuum,
Bakterien, Radieschen, Schnecken, Affen, Menschen, Experten, Eigenschaft
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