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01.05.2019 01:30
Lieber dazugehören, als aufgeklärt sein
In vielen kritischen Analysen zum Zeitgeschehen und zur Meinungsbildung wird
Sprache als Manipulations-Instrument dargestellt. Dazu wird sie leider auch
häufig genutzt.
Hier und
hier und an vielen weiteren Stellen haben die NachDenkSeiten sich damit beschäftigt. Sprache hat aber auch noch andere
wichtige Funktionen. Das wurde mir bewusst, als ich darüber nachdachte, warum
wir mit unserer Aufklärung nicht wirklich vorwärtskommen und das Gefühl haben,
auf der Stelle zu treten. Sprache schafft Identität in und für Gruppen, dient
sozusagen als deren Klebstoff. [Quelle: nds.de] JWD
Von Anette Sorg | Quelle: nds.de |
30.
April 2019
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Anette Sorg | Quelle: nds.de
(verlinkt) |
Das Miteinander-Sprechen hat also nicht nur die Funktion, Informationen zu
übermitteln. Es ist darüber hinaus eine Form des sozialen Handelns und
Verhaltens. Friedemann Schulz von Thun, ein bekannter
Kommunikationswissenschaftler, hat die vier Ebenen der Kommunikation anschaulich
mit dem 4-Ohren-Modell beschrieben.
.
In der Alltagssprache verwenden wir alle – je nachdem, in welcher Gruppe wir uns
gerade befinden – eine bestimmte Art der Kommunikation, manchmal mehr als das:
wir nutzen bestimmte Codes. Auszubildende in einem Betrieb sprechen
untereinander anders als sie mit ihren Vorgesetzten und Ausbildern sprechen; mit
ihren Kumpels im Sportverein unterhalten sie sich anders, als mit ihrem
Hausarzt. Eine Verkäuferin spricht mit ihren Kunden anders als mit ihren
Kindern. Unzählige Bücher und fast ebenso viele Comedians befassen sich auf mehr
oder weniger humorvolle Weise mit den Unterschieden zwischen Frauensprache und
Männersprache. Unsere regionalen Dialekte sind im Berufsalltag nicht angebracht,
im privaten Kontext nutzen wir sie häufiger.
Die Sprache von Experten untereinander verstehen die jeweiligen
Nicht-Experten nur in Ansätzen. IT-Spezialisten, Mitarbeiter eines
Forschungslabors, Manager, Behördenmitarbeiter: alle jonglieren mit vertrauten
Begriffen und Abkürzungen, die andere von der Kommunikation weitestgehend
ausschließen, die Kommunikation untereinander allerdings erleichtern. Darüber
hinaus ist diese Gruppensprache geeignet, eine Zugehörigkeit, eine Verbindung
darzustellen, die nicht explizit erwähnt werden muss. Sie wird durch die
gemeinsame Sprache manifestiert.
Sprache schafft eine Gruppenidentität.
Dieser kurze theoretische Abriss erhebt keinerlei wissenschaftlichen Anspruch.
Er ist jedoch hoffentlich hilfreich, wenn ich Sie auf folgende Beobachtungen und
Erlebnisse hinweise:
Immer wieder höre ich in unterschiedlichen Kontexten von unterschiedlichen
Personen dieselben Begriffe. Ich nenne sie Signalwörter. Gelegentlich werden sie
nur ganz nebenbei eingeworfen und widersprechen manchmal sogar der eigentlichen
Botschaft: Da wurde lange von „Fassbomben, die auf die eigenen Kinder abgeworfen
werden“ gesprochen, da wird Putin wiederholt als „homophober Autokrat“
bezeichnet, gewählte Präsidenten werden mit „Machthaber“ tituliert und der
Begriff „Populismus“ wird ausschließlich und inflationär für Parteien rechts und
links der CDU/SPD/Grüne/FDP benutzt.
Möglich, dass manche Menschen einfach nur – ohne nachzudenken – wiedergeben, was
sie immer wieder gehört und gelesen haben. Meine ernüchternde Analyse lautet
jedoch: Diese Menschen, egal ob sie dies im privaten Umfeld, im beruflichen
oder im politischen Kontext äußern, tun dies nicht notwendigerweise, weil
sie nicht ausreichend nachdenken oder weil sie damit andere beeinflussen
möchten. ie tun es häufig, um zu signalisieren: „Ich gehöre dazu“ oder „Ich
möchte dazugehören“ oder „Ihr, die ihr diese Begriffe auch verwendet, dürft euch
meiner Zugehörigkeit, meiner Loyalität vergewissert fühlen.“
Man kann das auch nachvollziehen: Der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow
(1908–1970) hat in seiner Bedürfnispyramide die sozialen Bedürfnisse (u.a.
Beziehungen eingehen, eine soziale Rolle erfüllen, Liebe erfahren/geben) als
Defizitbedürfnisse klassifiziert, also solche, die Zufriedenheit verhindern,
solange sie nicht erfüllt sind.
Wir Menschen sind soziale Wesen und nur in Gemeinschaft überlebensfähig. Der
Wunsch, Teil einer Gemeinschaft zu sein und sich dieser jederzeit vergewissern
zu können, ist in unserer schnelllebigen und unsicheren Zeit sicher ein großes
Bedürfnis.
Stellen Sie sich vor, Sie wären Mitglied einer Gruppe, in welcher die Mehrheit
ihre Erkenntnisse aus den Leitmedien (ARD; ZDF; FAZ; Süddeutsche, Spiegel, TAZ
und Frankfurter Rundschau) speist und Sie selbst sind seit geraumer Zeit Leser
der Nachdenkseiten. Dann haben Sie vermutlich ein kleines Problem. Die
weitgehend homogene Gruppe verhindert zwar sicher nicht, dass diskutiert wird,
aber die Diskussionen werden sich innerhalb eines engen Korridors bewegen, die
Wortwahl wird ähnlich sein, auch beeinflusst von den genannten Medien. Wenn Sie
nun mit kritischen Anmerkungen kommen und z.B. erklären, dass die „syrische
Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ ein Ein-Mann-Unternehmen ist und
keinesfalls ein neutraler Berichterstatter, werden Sie mindestens auf große
Augen und Unverständnis, eventuell sogar auf die Aussage: „aber trotzdem…“
stoßen.
Wenn Sie solche kritischen Anmerkungen allerdings öfter von sich geben, wird man
Ihnen signalisieren, dass Sie nicht (mehr) zur Gruppe passen oder Sie bekommen
selbst das Gefühl, ein „Geisterfahrer“ zu sein. Die Konsequenz wäre, die Gruppe
zu verlassen. Es gibt Menschen, die sind stark genug, so zu reagieren. Manche
haben nicht die Kraft dazu. Sie bleiben und verhalten sich ab sofort
„gruppenkonform“. Man muss es nicht verstehen, man darf es aber auch nicht
verurteilen.
Es gibt wenige Menschen, die materiell so unabhängig sind, dass sie sich eine
Fundamentalkritik gegenüber ihren Arbeitgebern (Medien, Politik, Gewerkschaft,
aber auch andere mächtige Arbeitgeber) erlauben können. Hofnarren im Mittelalter
wussten sehr genau, wie weit sie ihre humorvoll verpackte Kritik treiben
konnten, ohne bei den Herrschenden in Ungnade zu fallen. Vermutlich wissen die
heutigen „Hofnarren“, die auf Auftritte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen
angewiesen sind, das auch sehr genau und versichern jenen, von denen sie
wirtschaftlich abhängig sind, durch das dezente Einstreuen gewisser
Signalwörter, dass keine echte „Gefahr“ von ihnen ausgeht. Das Gegenteil ist der
Fall: durch die geduldete Kritik bleibt die Macht tatsächlich unangetastet. Die
tolerierte Kritik dient als Feigenblatt.
All die beschriebenen Zwänge, die materiellen wie die psychologischen, müssen
wir beachten, wenn wir versuchen aufzuklären. Manche möchten lieber nicht
aufgeklärt werden, weil sie sich dann neu sortieren müssten, Entscheidungen
treffen müssten, ihr Leben ändern müssten, Freunde aufgeben müssten, die
Komfortzone verlassen müssten.
Die Welt der Aufklärer und Aufgeklärten ist häufig eine andere. Eine freiere.
Manche haben vielleicht den Luxus, finanziell unabhängig zu sein, manche tun
sich leicht(er), sich umzuorientieren, manche sind stark genug, Anfeindungen
(mindestens zeitweise) auszuhalten.
Ein häufig zitiertes indianisches Sprichwort sagt: „Urteile nie über einen
Menschen, ehe du nicht 1000 Schritte in seinen Mokassins gelaufen bist“.
Vielleicht hilft es beim Aufklären, wenn wir ohne Verbissenheit, ohne
Verurteilungen unterwegs sein können. Vielleicht hilft es den Aufzuklärenden,
wenn wir ihnen mit Verständnis begegnen, nicht mit Herablassung. Vielleicht
öffnet es Türen, die verschlossen scheinen. Vielleicht.
Link zum Originaltext bei ' nachdenkseiten.de '
..hier
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Tags:
Audio-Podcast, Aufbau, Gegenöffentlichkeit, Strategien, Meinungsmache,
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