21.08.2019 21:00 Massenproteste in Hong Kong –
zwei Dokumente zur Debatte
Farben-Revolution oder Sozialproteste? Die andauernden Massenproteste in Hong
Kong stellen auch uns vor stetig neue Fragen und es ist schwer, diese Fragen
abseits pauschaler Schnellschüsse zu beantworten. Jens Berger und Marco Wenzel
haben versucht, für die NachDenkSeiten eine zarte Einordnung der Proteste
vorzunehmen. Dieser Versuch erhebt freilich nicht den Anspruch, die universelle
Wahrheit gepachtet zu haben. Vielleicht helfen unsere Zeilen Ihnen ja bei Ihrer
eigenen Einordnung der Lage. [Quelle: nds.de] JWD
Von Jens Berger & Marco Wenzel | Quelle: nds.de |
20.08.2019
Kanarienvogel in der
Kohlemine des chinesischen Systems
Ein Vorwort von Jens Berger
Im Frühjahr wurde Hong Kong zum 25. Mal in Folge von der neoliberalen Heritage
Foundation zur „freiesten Volkswirtschaft der Welt“
ernannt. Der Preis für diese „Freiheit“ ist eine massive Teilung der
Gesellschaft in eine besitzlose Masse und eine kleine, extrem reiche
Oberschicht, die mit der Stadtregierung und der Zentralregierung in Peking
bestens vernetzt ist. Verlierer dieser Entwicklung sind vor allem die gut
ausgebildeten jungen Hong-Kong-Chinesen, die ins Prekariat abstürzen und ihre
Hoffnungen begraben. Zahlreiche Experten bezeichneten Hong Kong schon länger als
„Schnellkochtopf“ oder „tickende Zeitbombe“.
In den letzten fünfzehn Jahren haben sich die Immobilienpreise in Hong Kong etwa
verdreifacht. Zehn-Quadratmeter-Verschläge für eine Miete
von 1.400 US$ pro Monat sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Wer nichts
besitzt, wird auch künftig nichts besitzen können. Die Preise sind jenseits von
Gut und Böse und das Gros der Immobilien ist ohnehin in der Hand einiger weniger
Superreicher. „Investitionen“ vom Festland heizen die Lage zusätzlich an. Hong
Kong ist die teuerste Stadt der Welt mit Penthouse-Paradiesen für Milliardäre
und Käfigwohnungen für die Massen. Die 21 reichsten Bewohner der
Sonderwirtschaftszone besitzen zusammen übrigens 206 Milliarden Euro – mit
starker Tendenz nach oben, da die Stadtverwaltung getreu dem neoliberalen Mantra
eine der weltweit geringsten Steuerquoten aufrechterhält.
Während die Immobilienpreise sich in fünfzehn Jahren verdreifacht haben und die
Mieten demzufolge kräftig anzogen, bewegten sich die Gehälter kaum von der
Stelle. Heute beträgt das monatliche Durchschnittseinkommen in etwa so viel wie
die durchschnittliche Monatsmiete eines Einzimmerappartements – in wohl keiner
anderen Stadt der Welt leben daher so viele Menschen auf einem Quadratmeter
Wohnfläche.
Doch diese Probleme sind im Kern nicht neu. Schon Wong Kar Wais 1994 und 1995
gedrehte Hong-Kong-Filme „Chunking Express“ und „Fallen Angels“ zeichnen ein
beklemmendes Bild einer aus den Nähten platzenden, für die Massen unbezahlbaren
Mega-Metropole. Neu ist jedoch die stetig steigende Hoffnungslosigkeit für die
Kinder der Mittelschicht – also diejenigen, die noch vor wenigen Jahren am
„Traum von Hong Kong“ teilhaben konnten.
Dieser Traum scheint ausgeträumt zu sein. Die qualifizierten Absolventen der
Hochschulen in Hong Kong stehen in immer stärkerer Konkurrenz zu den
Einwanderern vom Festland, die für noch weniger Geld noch härter arbeiten.
Verloren ist die Perspektive auf ein besseres Leben – auf eine eigene Wohnung,
auf ein Gehalt, von dem man gut und eigenständig leben kann. All dies sind sehr
gute Gründe, warum die jungen Angehörigen der Mittelschicht nun auf die Straße
gehen und den Aufstand proben.
Paradox ist jedoch auf den ersten Blick, dass sich die Proteste der Opfer einer
ultra-neoliberalen Oligarchie gegen den steigenden Einfluss eines formal als
kommunistisch geltenden Staates auf die Sonderwirtschaftszone richten. Doch mit
diesen Schubladen scheint man im aktuellen Konflikt in Hong Kong nicht sehr weit
zu kommen. Die Regierung der Sonderwirtschaftszone Hong Kong und die lokale
Oligarchie sind schließlich bestens mit Peking vernetzt und die jungen
Demonstranten sehen den starken Einfluss der Festland-Regierung auf die
Sonderwirtschaftszone vor allem als Bedrohung für ihre eigenen Lebenspläne.
Derlei Probleme sind für die chinesische Regierung beileibe nichts Neues. Auch
wenn westliche Medien nur sehr selten darüber berichten –
die jüngere chinesische Geschichte kennt zahlreiche Fälle sozialer Proteste,
bei denen die Zentralregierung sich stets durch eine sehr diplomatische
Flexibilität ausgezeichnet hat. Dies lässt auch für Hong Kong hoffen. Hong Kong
scheint eher ein „Kanarienvogel in der Kohlemine des chinesischen Systems“ zu
sein, der die Grenzen aufzeigt, wie weit es die Oligarchie im chinesischen
Staatskapitalismus mit ihrem „Klassenkampf“ gegen die Interessen der Massen
treiben kann. Hong Kong ist hier nämlich ein Sonderfall. In anderen
Metropolregionen achtet die Partei penibel darauf, dass die Massen eine
quantitative und qualitative Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse erfahren.
Daher ist es auch sehr wahrscheinlich, dass die aktuellen Massendemonstrationen
Peking aufzeigen, dass nun die Notbremse zu ziehen ist. Sobald dies ohne
Gesichtsverlust möglich ist, dürfte China daher mit einigen „Sonderrechten“ für
die Oligarchie in Hong Kong aufräumen.
Massenproteste in Hong
Kong – Der Versuch einer Einordnung
Von Marco Wenzel
Seit dem 9. Juni gibt es, wie bereits mehrmals in der Vergangenheit, fast
täglich Massenproteste gegen die Regierung in Hong Kong. Auslöser ist diesmal
ein Gesetzesvorhaben über eine geplante mögliche Abschiebung von Kriminellen
nach China, Taiwan und Macau. Aber es geht um mehr: es geht um den Status von
Hong Kong und es geht um die Macht, die China über HK ausübt. Nicht von ungefähr
war auch das Verbindungsbüro Chinas in HK eines der Hauptziele der Proteste.
Aber es geht auch um Armut, Arbeitsbedingungen und Wohnungsnot in einer der
reichsten Städte der Welt.
Geschichtlicher Hintergrund
Nachdem China der englischen Kolonialmacht im Ersten Opiumkrieg unterlegen war,
erzwangen im Jahre 1842 die Sieger die Unterschrift des Kaisers von China unter
den Vertrag von Nanking. Es war ein ungleicher Vertrag, er übertrug unter
anderem dem britischen Imperium das ewige Besitzrecht an der Insel Hong Kong.
1860 errang England in einem weiteren Vertrag das Besitzrecht über die Südspitze
des Festlandes, das Hong Kong direkt gegenüberliegt. In einem dritten Vertrag,
im Jahre 1898, pachtete England schließlich zusätzlich noch auf 99 Jahre einen
größeren Teil des heutigen Hong Kong, die sogenannten New Territories.
Als der letztgenannte Pachtvertrag über die neuen Territorien so langsam zum
Auslaufen kam und die Übergabe an China sich anbahnte, handelten die britische
und die chinesische Regierung einen Kompromiss aus. Ohne die neuen Territorien
wäre Hong Kong, so wie es sich bis 1984, dem Jahr der Unterzeichnung des
Übergabevertrages, entwickelt hatte, nicht überlebensfähig gewesen. Man einigte
sich auf die Rückgabe des gesamten Gebietes der heutigen Sonderverwaltungszone
Hong Kong, allerdings erst in 50 Jahren. Bis 2047 sollte Hong Kong zwar unter
chinesischer Verwaltung stehen, die Eigentumsverhältnisse sollten aber nicht
angetastet werden und das Geschäft in und mit Hong Kong sollte weiterlaufen wie
bisher. Nur in der Außen- und Sicherheitspolitik sollte China die Hoheit
erhalten. Hong Kong bekam eine eigene Verfassung, in der Meinungs- und
Pressefreiheit garantiert wurden. Hong Kong wurde ein eigenständiges Zoll- und
Steuergebiet und behielt das bisherige Wirtschafts- und Rechtssystem sowie den
HK$ als Währung bei. Den ausgehandelten Kompromiss nannte man: ein Land, zwei
Systeme.
50 Jahre, bis 2047. Die Hälfte der Zeit ist um. Noch 28 Jahre. Wenn es nach dem
Geist des Vertrages geht, dann wird Hong Kong ab 2047 nur noch eine weitere
chinesische Großstadt sein. Wie die Übergabe dann vonstatten geht, hängt von den
Machtverhältnissen ab, die bis 2047 entstanden sein werden. Wem werden die
hübschen Wolkenkratzer dann gehören? Das hängt auch von der chinesischen
Gesetzgebung im Jahre 2047 ab. Werden die heutigen Besitzer ihre Geschäfte und
Büros einfach räumen und sie widerstandslos dem chinesischen Staat überlassen?
Wird das Ausland China unter Druck setzen? Und was wird aus den Arbeitern
werden? Werden sie weiter ihre Arbeit behalten? Was hat China vor mit Hong Kong?
Viele haben viel zu verlieren, 2047. China wird wohl kaum auf den Besitz von
Hong Kong verzichten, wenn die Zeit zur Übergabe gekommen ist. Der Jackpot ist
dementsprechend hoch.
Das politische System in HK
Die Sonderverwaltungszone HK steht seit der Übergabe 1997 unter chinesischer
Hoheit. Staatsoberhaupt ist der chinesische Staatspräsident. Regierungschef von
HK ist der chief executive officer, zur Zeit Frau Carrie Lam. Der chief
executive officer wird nicht vom Volk direkt, sondern von Wahlmännern gewählt.
Diese Wahlmänner ernennt wiederum der chinesische Volkskongress in Peking. China
bestimmt damit den Regierungschef von HK, der dem chinesischen Staatspräsidenten
verantwortlich ist und nicht dem Volk von Hong Kong. Das Wahlrecht stammt noch
aus der Kolonialzeit. Die 70 Abgeordneten im Hong Konger Parlament, dem Hong
Konger Legislativrat (Legco) werden nur zur Hälfte direkt von der Bevölkerung
gewählt. 30 der 70 Sitze werden von Berufsgruppen gewählt, die von Peking-treuen
Geschäftsleuten dominiert werden. So haben z. B. die in Paris ansässige
Versicherung Axa und die ursprünglich 1865 in HK gegründete HBSC, die Hausbank
der Geldwäscher, Drogenhändler und Waffenschieber, der sogar der US-Senat eine
„versaute Unternehmenskultur“ bescheinigte und die heute ihren Hauptsitz in
London hat, die größten Stimmanteile in der Berufsgruppe Finanzen, die die
Abgeordneten der Legco wählt. Die Wahlstimmen Einzelner haben in diesem System
manchmal das Stimmengewicht von mehreren hunderttausenden Hongkonger Bürgern.
In der Volksversammlung sitzen 18 Parteien und neun unabhängige Abgeordnete. Das
sind 27 verschiedene Interessenvertretungen bei insgesamt nur 70 Abgeordneten.
Eher also ein bunt zusammengewürfelter Haufen als eine echte Volksvertretung.
Grob gesehen spaltet sich dabei die eine Hälfte der Abgeordneten in eine
Pro-Peking-Fraktion und die andere Hälfte in eine pandemokratische Fraktion. Die
Grenzen sind fließend.
Man kann damit mit Fug und Recht behaupten, dass Wahlen in HK alles andere als
demokratisch und vom Prinzip „one man, one vote“ weit entfernt sind. Kritik an
diesem System ist durchaus berechtigt. Und Proteste dagegen gab es in der
Vergangenheit ja auch schon des Öfteren.
Proteste in Hong Kong:
Bereits vier Jahre nach der Übergabe von HK an China, im Jahre 2003 gab es erste
Proteste gegen die Wahlen, gegen ein geplantes Gesetz zur Einschränkung der
Pressefreiheit und gegen ein Demonstrationsverbot. 2014 gab es wiederum
Massenproteste gegen das Wahlsystem, bekannt unter dem Namen Umbrella Movement,
weil die Demonstranten sich mit Regenschirmen gegen die Wasserwerfer der Polizei
schützten. Die Demonstrationen blieben erfolglos, einige der Anführer wurden
später verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt. 2019 aber kamen die
Massenproteste für viele überraschend. Auslöser ist ein von der Regierung
geplantes Abschiebegesetz.
Hintergrund:
Vier Monate vor der Übergabe von HK an China wurde von der Kronkolonie HK ein
Gesetz zur gegenseitigen Auslieferung von Straftätern verabschiedet, das die
Auslieferung von Personen aus HK nach China, Macau und Taiwan explizit
ausschloss. Man bezweifelte damals die Unabhängigkeit der chinesischen Justiz
sowie faire Gerichtsprozesse in China im Falle einer Auslieferung von Personen
an die dortige Justiz. HK durfte und darf aber auch heute noch Straftäter an die
Behörden sämtlicher anderer Länder ausliefern, wenn sie in HK gefasst werden und
wenn ein Auslieferungsantrag gestellt wird.
Als nun im Februar 2019 ein in HK ansässiger Mann seine Verlobte im gemeinsamen
Urlaub in Taiwan ermordete und unerkannt zurück nach HK flog, nahm die Regierung
in HK dies zum Anlass, ein neues Gesetz vorzubereiten, das die Abschiebung von
Kriminellen auch nach China, Macau und Taiwan erlauben würde. Ob Vorwand oder
nicht, das sei jetzt dahingestellt. Das Gesetz sollte am 12. Juni verabschiedet
werden. Am 9. Juni begannen die Massenproteste gegen das Gesetzesprojekt. Am 15.
Juni erklärte Carrie Lam auf Grund der Unruhen die Aussetzung des Gesetzes auf
unbestimmte Zeit. Bereits am 16. Juni formierten sich jedoch neue
Massenproteste, die diesmal den Rücktritt von Frau Lam forderten. Inzwischen
gehört auch die Forderung nach einer Untersuchung der Polizeigewalt gegen die
Demonstranten zu den Forderungen.
Nun dürfte klar sein, dass in HK nicht eine Million Menschen auf die Straße
gehen, nur um die Auslieferung eines überführten und geständigen Mörders nach
Taiwan zu verhindern. Denn es geht um mehr. Um viel mehr.
Schon in den späten 1940er Jahren waren viele Mitglieder der Kuomintang nach HK
geflüchtet. Aber auch viele andere in China Verfolgte sehen in HK einen sicheren
Zufluchtsort, so z.B. Mitglieder der in China verfolgten religiösen Falun Gong
oder auch Menschen, die aus anderen, oft politischen Gründen nach HK geflüchtet
sind, darunter auch Teilnehmer an den Protesten am Tian’anmen-Platz im Jahre
1989.
Und auch viele Angehörige der Oberschicht haben Interesse daran, dass alles beim
Alten bleibt. Denn das neue Gesetz umfasst die mögliche Auslieferung nach China
auch für Delikte wie Korruption, Betrug, Steuerhinterziehung und
Wirtschaftskriminalität, weit verbreitete Praktiken in der Finanzmetropole HK.
Zudem haben viele reiche Chinesen ihr oft durch dunkle Geschäfte erworbenes Geld
in HK in Sicherheit gebracht. In HK lagert viel Schwarzgeld aus China. Das
Gesetz würde nicht nur die Auslieferung der Verdächtigen erlauben, sondern auch
Rechtshilfeersuchen seitens China, bis hin zu Ermittlungen und
Hausdurchsuchungen vor Ort in HK ermöglichen. Und das betrifft nicht nur Bürger
von HK, sondern auch in HK ansässige Ausländer, besonders natürlich
Geschäftsleute und die notorisch in zwielichtige Geschäfte verwickelten
Bankleute. Die USA geben an, dass etwa 85.000 Amerikaner in HK leben. Schon vor
Ausbruch der Proteste hatten sich deshalb auch die Organisation der
Rechtsanwälte in HK, die amerikanische Handelskammer in HK sowie die
internationale Handelskammer von HK gegen das Gesetz ausgesprochen. Es geht also
nicht um den Schutz von einigen wenigen Mördern und Vergewaltigern, die Behörden
geben ihre Zahl mit 300 an, die sich in HK verstecken, sondern um ein ganzes
Heer von Wirtschaftsbetrügern und -kriminellen und Steuerhinterziehern, die
jetzt ein Ende ihrer Geschäfte und ihre Auslieferung befürchten.
Die Gegner des Auslieferungsgesetzes begründen ihre Proteste mit der Angst vor
der Ausdehnung von Chinas Macht über HK und ihrer Angst vor dem Vordrängen
Festlandchinas nach HK. An den jährlichen Mahnwachen für die Opfer des
Tian’anmen-Platzes nehmen regelmäßig mehr als 100.000 Menschen teil, dieses
Jahr, 2019, am 4. Juni, waren es sogar 180.000. Manche von ihnen müssen
befürchten, verhaftet und zurück nach China geschickt zu werden. Die Angst unter
politischen Aktivisten, unter falschen Anschuldigungen nach China abgeschoben
und dort vor Gericht gestellt zu werden, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.
Für wenig Vertrauen in die chinesische Justiz dürfte auch die Affäre um die
verschwundenen Buchhändler beigetragen haben. Ende 2015 waren 5 Hong Konger
Buchhändler unter mysteriösen Umständen
verschwunden und später in China wiederaufgetaucht. Einer von ihnen war
sogar im Urlaub in Thailand entführt und nach China gebracht worden. Sie hatten
in HK chinakritische Bücher verkauft. Sie legten in Haft fragwürdige
Geständnisse ab, von denen man ausgehen muss, dass sie erzwungen worden waren,
und verbrachten einige Zeit in chinesischer Haft, bevor man sie wieder freiließ.
HK und die Greater Bay Area
Die Sonderverwaltungszone HK ist eine der stärksten Volkswirtschaften der Welt.
HK gilt als Verbindung des Westens nach China und umgekehrt. HK ist für China
unentbehrlich, aber auch umgekehrt. 80 Prozent des weltweiten Yuan-Handels
laufen über HK. Zudem ist HK in die chinesischen Pläne für die neue Seidenstraße
mit eingebunden. Viele chinesische Staatsbetriebe sind an der Börse registriert.
Der Finanzplatz HK und der Hafen haben eine überragende Bedeutung für den Handel
mit China. Über den internationalen Flughafen von HK werden täglich mehr als
1.000 Flüge abgewickelt, er ist neben Bangkok und Singapur einer der
bedeutendsten Flughäfen in Asien und einer der größten Flughäfen der Welt.
Das Delta am Perlfluss umfasst aber nicht nur HK. In einer gigantischen neuen
Wirtschaftszone sind neben HK auch Macau, Shenzhen und Guangdong integriert.
Diese Gegend wird gemeinhin die „Greater Bay Area“ genannt. Hier leben 70
Millionen Menschen, die Region hat zusammen mit HK eine enorme Wirtschaftskraft.
In der Region sind zudem viele High-Tech-Industrien angesiedelt, u.a. auch
Huawei. Es ist eine der
größten und sich am schnellsten entwickelnden Metropolregionen der Erde, das
Silicon-Valley Asiens.
Klar, dass diese Situation viele Arbeiter anzieht, die sich in der Region ihr
Brot verdienen wollen. Insbesondere aus China kommen viele Wanderarbeiter. Oft
leben sie in Slums ohne Festanstellung mit geringen, an Ausbeutung grenzenden
Löhnen. Aber auch in HK ist die Situation der Arbeiterschaft alles andere als
rosig. In HK hat sich die Lage in den letzten Jahren für die meisten
Lohnabhängigen verschlechtert. Und mit dem Handelsstreit zwischen China und den
USA und dem Boykott von Huawei ist die Wirtschaft der Region eingebrochen und
die Lage droht sich noch weiter zu verschlimmern.
Die wirtschaftliche und soziale Lage
Nirgendwo auf der Welt gibt es auf kleinstem Raum so viele Milliardäre wie in
HK. Und nirgendwo sonst auf der Welt dürfte das Einkommen so ungleich verteilt
sein wie dort. Im Jahr 2016 stieg die Zahl der Armutsbetroffenen in der
Metropole Hongkong auf 1,35 Millionen. Laut Statistik leben damit 20% der
Bevölkerung in HK unterhalb der Armutsgrenze. Soziale Spannungen sind da
vorprogrammiert.
Obwohl HK eine der teuersten Städte weltweit ist, was die Lebenskosten
anbelangt, liegen die Löhne in HK oft weit unter der Armutsgrenze.
Inflationsbereinigt stiegen die Löhne in den letzten 10 Jahren nur um etwa 0,7
Prozent, die Mieten dagegen um 250 Prozent. Nur die Mieten im Zentrum von HK
allein übersteigen das Mehrfache des Einkommens eines normalen Arbeiters. Die
Menschen arbeiten an 6 oder 7 Tagen die Woche, die Durchschnittsarbeitszeit in
HK beträgt 55 Stunden, die Arbeitszeiten in HK gehören damit zu den längsten der
Welt. Die Reichen wohnen in teuren Luxus-Apartments, während Eigentumswohnungen
selbst für die Mittelklasse unerschwinglich bleiben. Die Unterklasse lebt in
Appartements, die immer weiter unterteilt werden und in denen kaum noch Platz
für Privatsphäre bleibt. Manche leben noch wie früher auf Hausbooten im Hafen.
Aber selbst das ist noch ein Privileg:
In der Metropole Hongkong sind über 1,3 Millionen Menschen ökonomisch und sozial
an den Rand gedrängt. Davon lebten 2017, laut Angaben des Hilfswerks Misereor,
Hunderttausende Menschen als sogenannte Cage People (deutsch etwa:
Käfigmenschen). Das ist die Bezeichnung für Bewohner Hongkongs, die mit mehreren
Personen in einem Raum wohnen, welcher durch abschließbare Käfige oder Holzboxen
geteilt ist. Die Käfige dienen als einzelne Wohneinheiten, sind etwa zwei
Kubikmeter groß und teilweise doppel- oder dreistöckig gestapelt. Ganze Familien
leben in den Käfigen, teilen sich mit sechs anderen Familien eine Toilette,
waschen dort ihre Wäsche mit der Hand und schlafen übereinander. Es gibt keine
Privatsphäre oder Rückzugsräume. Extrembedingungen herrschen im Sommer, wenn in
Hongkong die Temperaturen um die 40 Grad liegen…
Die sozialen Gegensätze in HK nehmen täglich zu. Die Wirtschaft wird von
Multimilliardären dominiert, die normalen Menschen leben in Drahtverhauen.
Südchina und auch HK sind eine Billiglohnregion geworden, von der sich selbst
Gerhard Schröder noch eine Scheibe abschneiden könnte.
In dieser Lage ist es nicht verwunderlich, wenn die Menschen auf die Straße
gehen. Aber warum dann ausgerechnet gegen das Abschiebungsgesetz, ein
Gesetzesprojekt, von dem die wenigsten der Demonstranten kaum jemals persönlich
betroffen sein werden, und weshalb nicht für höhere Löhne und bezahlbare
Wohnungen?
Wer steht hinter den Massenprotesten in HK?
Es gibt in HK, so wie in den meisten Ländern der dritten Welt, kaum eine
organisierte Arbeiterbewegung mit freien unabhängigen Gewerkschaften, die sich
für die Interessen der Arbeiterschaft einsetzen. Es gibt keine
Tarifverhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, mit Tarifabschlüssen
für einzelne Industriezweige, die dann für allgemeinverbindlich erklärt werden,
für alle Betroffenen gelten und die Löhne und Arbeitsbedingungen
rechtsverbindlich festlegen.
Es gibt auch keine Arbeiterparteien wie in Europa, die aus der Tradition der
Arbeiterbewegung entstanden sind und die Interessen der Arbeiterschaft gegenüber
dem Kapital vertreten würden, mit sozialistischem oder marxistischem
Hintergrund. Es gibt auch im Parlament keine Aufteilung in ein bürgerliches und
ein sozialistisches Lager. Stattdessen gibt es unzählige Interessengruppen
verschiedenster Couleur, wie in der Volkskammer in HK. Die Unterteilung ist eher
die Unterteilung zwischen Arm und Reich statt zwischen Lohnarbeit und Kapital.
Das Bündnis der Gewerkschaften in HK ist eine von Peking abhängige Gewerkschaft,
deren Ziele denen der KP Chinas untergeordnet sind. Und die lauten auf Erhöhung
der Produktivität und Loyalität der Arbeiterschaft zur KPCh.
Die Anziehungskraft Chinas als sozialistisches Modell dürfte aber für die
Arbeiterschaft von HK kaum attraktiv sein. Insbesondre deshalb nicht, weil es
den Arbeitern in der VR China kaum besser geht als in HK, die Wanderarbeiter in
und aus China, die vermehrt auf der Suche nach Einkommen in die Region kommen,
gehören zu den ärmsten Menschen in ganz China.
Auch diesmal wiederum stützt sich der Protest hauptsächlich auf die Jugend und
auf die Studenten, auch wenn sich die Arbeiter mit ihnen solidarisieren und
sogar einen Streik ausgerufen haben. Es sind ja auch hauptsächlich die jungen
Leute, die 2047 noch im Arbeitsverhältnis stehen werden. Viele von den jungen
Leuten können sich aber trotz einer 56-Stunden-Arbeitswoche ihre Lebensträume
nicht mehr erfüllen.
Allerdings treten die Anführer der Bewegung diesmal nicht so klar hervor wie bei
der Regenschirm-Bewegung 2014, als die Bewegung noch Gesichter hatte. Deren
Anführer damals aber stammten fast ausschließlich aus dem Bürgertum und aus der
Geschäftswelt. Juraprofessoren und Hedgefonds-Manager gehörten 2014 dazu.
Die Verabredungen zu den Demonstrationen geschehen diesmal über weitgehend
Handy-Apps und Chatgruppen. Die sind gut miteinander vernetzt und organisieren
sich weitgehend auch über diese Apps. Im Handumdrehen ist eine Demonstration
organisiert und genau so schnell wieder aufgelöst und an einen anderen Ort
verlegt. Die nötigen Sachen zur Kundgebung, inklusive Barrikaden und
Laserpointer sowie die Verpflegung der Demonstranten werden spontan über Handy
organisiert und herangeschafft.
Quelle: South China Morning Post via
Youtube | veröffentlicht 16.08.2019
Hong Kong protest tactics: occupy, disrupt, disperse, repeat
Da die Bewegung bisher niemanden hat, der offiziell in ihrem Namen spricht,
bleibt auch unklar, welche und wessen Interessen die Bewegung
vertritt.
Jeder kann sich als Sprachrohr ausgeben, ohne dass dessen Wahrheitsgehalt
überprüft werden kann. Andererseits sind „die Demonstranten über soziale
Netzwerke extrem gut organisiert“. Hier gilt dasselbe. Wer gibt dort den Ton an?
Wer sind die Kräfte im Hintergrund der Netzwerke, wer betreibt sie, wer
finanziert sie, und wer entscheidet über die Themen und Inhalte? Inwieweit ist,
was dort diskutiert und beschlossen wird, repräsentativ und authentischer
Ausdruck von Willen und Geist dieser Bewegung?
Einflüsse aus dem Ausland
Seit Langem ist klar, dass der wirtschaftliche Aufstieg Chinas den USA ein Dorn
im Auge ist. Es geht hierbei um die Frage, wer die dominierende Weltmacht der
Zukunft ist. Und es geht dabei auch um die die Dominanz der
Zukunftstechnologien, wobei Huawei in der 5G-Technologie die USA und Silicon
Valley bereits überholt hat. Die Greater Bay Area im Perlflussdelta spielt
hierbei ein Schlüsselrolle. Da kommt es den USA nur recht, wenn Unruhen in der
Region ausbrechen, die die VR China zu destabilisieren drohen. Und wenn man dann
noch ein wenig nachhelfen kann, dann wird man es in Washington auch sicher tun.
Ein bewährtes Mittel dazu sind Maßnahmen zur Unterstützung der
regierungsfeindlichen Opposition.
Die amerikanische NED (National Endowment for Democracy) überwies
laut
Informationen von German Foreign Policy allein im Jahre 2018 beinahe eine halbe
Million US-Dollar an oppositionelle Organisationen in HK.
Der Hong Konger Medienmogul und Milliardär Jimmy Lai unterstützt sowohl
finanziell als auch mit seinen Boulevardblättern, insbesondere der Zeitung
„Apple daily“, schon seit Langem die antichinesische Opposition. Jimmy Lai wurde
am 8. Juli, knapp einen Monat nach Ausbruch der Proteste, in Washington sowohl
von Staatssekretär Mike Pompeo als auch von Vizepräsident Mike Pence zu
„konstruktiven Gesprächen“ über die Situation in Hong Kong empfangen. Die
Gesprächsteilnehmer zeigten sich dabei „besorgt“ über die Menschenrechte in HK.
Und wo die Freiheit auf dem Spiel steht, da ist die Friedrich Naumann Stiftung
der FDP nicht weit. Zumindest dann nicht, wenn es darum geht, in nicht genehmen
Staaten irgendwo auf der Welt im Namen der Menschenrechte Unruhe zu stiften. So
fuhr eine Delegation der FDP unter der Führung von Christian Lindner zur
Eröffnung einer „kreativen Informationsplattform für Liberalismus“ am 9. Juli
nach HK und traf sich dort mit Mitgliedern der oppositionellen Demokratischen
Partei, was auf heftige Proteste aus Peking stieß.
Fazit:
In der Millionenmetropole HK sind über 1,3 Millionen Menschen an den Rand
gedrängt. Die Leute, die hinter der aktuellen Protestbewegung stehen, sind,
bisher wenigstens, schwer auszumachen. Mit Sicherheit gibt es auch Einflüsse aus
dem Ausland, die die Bewegung finanziell und logistisch unterstützen, um den
Einfluss Chinas zu unterminieren und ihre eigenen Leute in der Legco zu
positionieren. Und damit eine schrittweise Abkehr von HK zu China einzuleiten,
mit dem Ziel, die Übernahme Chinas von HK im Jahre 2047 zumindest zu erschweren
und evtl. neue Übergabebedingungen mit einem geschwächten China auszuhandeln.
Die konkreten Ziele der Bewegung sind zwar noch undurchsichtig, haben ihren
Ursprung aber mit Sicherheit in der sozialen Lage und der damit verbundenen
Unzufriedenheit der Bevölkerung von HK. Die Region bleibt weiterhin ein
Pulverfass, in dem sich jederzeit neue Proteste entfalten können. Proteste, die
sich demnächst vielleicht konkreter auf die soziale Lage der Beschäftigten
konzentrieren werden. Aus Studentenprotesten können schnell Arbeiterproteste
werden.
Diese Entwicklung wollen sowohl die USA und ihre Verbündeten als auch die
chinesische Führung verhindern. Das Anheizen des Konflikts ist ein Spiel mit dem
Feuer. Denn ein unabhängiges HK unter Kontrolle einer Arbeiterregierung wollen
weder der Westen noch China. Nicht auszudenken, wenn sich Arbeiterproteste über
HK hinaus auf die Greater Bay Area und sogar auf ganz China ausdehnen würden.
Oder wenn sich HK unter einer pro-westlichen Regierung mit Macau und Taiwan
zusammen zu einem neuen unabhängigen Staat erklären würde.
Zukunftsmusik, Spekulationen? Ja. Die Situation ist zurzeit noch
unübersichtlich. Bis 2047 sind es zwar nur noch 28 Jahre, dann wird der Kuchen
endgültig verteilt. Aber bis dahin wird noch viel Wasser den Perlfluss
hinunterfließen. Genug Zeit für alle Anwärter, sich neu zu positionieren.
15.08.2019 [Quelle: voltairenet.org / Kurz gefasst] Die Briten und
die "Farben-Revolution" in Hongkong
Seit der Übertragung der Souveränität vom britischen Empire auf die
Volksrepublik China ist Hongkong – mit Macao - eine von zwei chinesischen
Sonderverwaltungszonen. Gemäß den Abkommen von 1997 hat Peking die westliche
Demokratie in Hongkong etabliert, die Hongkong nie zuvor gekannt hatte. Zum
ersten Mal wurde das Parlament vom Volk gewählt.
Wenn die Übergabe Hongkongs an China auch eine Verbesserung der
Lebensbedingungen der Bevölkerung mit sich gebracht hat, ist diese jedoch
kulturell mehr britisch als chinesisch geblieben. Das überrascht natürlich die
Touristen.
Die derzeitigen massiven Demonstrationen müssen zuerst als die Feststellung der
Unmöglichkeit einer kulturellen chinesischen Vereinigung verstanden werden. Die
Demonstrationen werden von dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten
Staaten geschürt, und eine US-"Diplomatin" hat die Führer der Proteste getroffen
und trainiert. Das Spitzen-Element der Proteste, die Bewegung für die
Unabhängigkeit von Hongkong, wurde gesehen, als es die alte koloniale Flagge
mitten in der Pressekonferenz schwang. Das gleiche Phänomen war in Libyen und
Syrien beobachtet worden, wo der nationale Übergangsrat die Flagge von König
Idriss (in Libyen) und die freie syrische Armee, die Flagge des französischen
Mandats übernommen hatte.
Quelle: voltairenet.org
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